Im Einsatz
Inhalt: Schilf-Glasflügelzikade: Neue Strategien gegen ein wachsendes Risiko
Wie die Schilf-Glasflügelzikade neue Fragen an Landwirtschaft und Pflanzenschutz stellt – und was jetzt getan werden kann
Gesunde Zuckerrüben und Kartoffeln sind ein fester Bestandteil unserer Ernährung und Grundlage für zahlreiche Produkte des täglichen Bedarfs. Doch ihr Anbau sieht sich seit einigen Jahren mit zunehmend kritischen Herausforderungen konfrontiert – verursacht durch die Schilf-Glasflügelzikade (Pentastiridius leporinus) und von ihr übertragene bakterielle Erreger. Das betrifft nicht nur einzelne Betriebe oder Regionen, sondern stellt eine Herausforderung für ganze Wertschöpfungsketten dar – vom Anbau über die Verarbeitung bis zur Versorgung mit Nahrungsmitteln. „Durch die hohen Populationsdichten der Schilf-Glasflügelzikade ist auch in den nächsten Jahren mit Befall in den betroffenen Kulturen zu rechnen“, warnt Dr. Christoph Joachim vom JKI-Institut für Pflanzenschutz in Ackerbau und Grünland: „Da die Schilf-Glasflügelzikade polyphag und für ihren Lebenszyklus nicht auf eine bestimmte Kultur angewiesen ist, ist ein Ausweichen bzw. eine Ausbreitung auf weitere Kulturen nicht ausgeschlossen. Merklich ist die in den letzten Jahren zu verzeichnende, sprunghafte Erweiterung des Wirtspflanzenkreises der übertragenen Pathogene.“
Die Schilf-Glasflügelzikade hat sich an landwirtschaftliche Kulturen wie Zuckerrübe und seit 2022 auch an Kartoffel angepasst. Sie überträgt beim Saugen zwei bakterielle Erreger: Candidatus Phytoplasma solani (Verursacher des „Stolbur“-Syndroms) und Candidatus Arsenophonus phytopathogenicus. Beide können gemeinsam das sogenannte „Syndrome Basses Richesses“ (SBR) in der Zuckerrübe auslösen – eine Krankheit, die mit geringeren Zuckergehalten, verformten oder weichen Rüben sowie Qualitätsverlusten einhergeht. Bei Kartoffeln wird die Krankheit „Bakterielle Knollenwelke“ genannt, die zu geringer Knollengröße, weichen Knollen und erhöhten Zuckergehalten führt, die bei Verarbeitungskartoffeln unerwünschte Verbräunungen hervorrufen. Durch ihre Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit, sich über verschiedene Wirtskulturen zu vermehren, hat sich die Zikade mittlerweile in Süddeutschland und ersten Regionen Mitteldeutschlands als Schadorganismus etabliert – Tendenz steigend.
Auswirkungen auf Landwirtschaft und Wertschöpfung
Mit dem Wirtswechsel auf Kartoffeln hat die Schilf-Glasflügelzikade ihren Einflussbereich deutlich ausgeweitet. Ende 2024 waren bundesweit schätzungsweise 85.000 Hektar Zuckerrüben und 22.000 Hektar Kartoffeln mit den Erregern infiziert. In Hessen ist der Anbau von Pflanzkartoffeln infolgedessen nahezu zum Erliegen gekommen. Auch andere Gemüsekulturen wie Karotten, Rote Bete und Zwiebeln zeigen erste Symptome, wenn auch die Rolle der Zikade als Überträger hier noch weiter erforscht werden muss.
Die Folgen sind nicht nur auf den Feldern spürbar, sondern auch entlang der gesamten Produktionskette: Ertrags- und Qualitätsverluste, höhere Aufbereitungs- und Verarbeitungskosten und eine zunehmend angespannte Versorgungslage bei Saat- und Pflanzgut. Hinzu kommt der erhöhte Aufwand für Monitoring, Beratung und Bekämpfung.
„Für die Kartoffelwirtschaft kann ein signifikanter ökonomischer Schaden für die betroffenen Anbauer sowie für den Vertrieb von Speisekartoffeln angenommen werden“, erläutert Dr. Christoph Joachim.


Handlungsempfehlungen und regionale Strategien
Eine pauschale Bekämpfungsschwelle für die Zikade existiert derzeit nicht – die Fangzahlen auf Klebefallen korrelieren nicht zuverlässig mit der tatsächlichen Infektionslast in den Beständen. Deshalb setzt das Julius Kühn-Institut in Zusammenarbeit mit den Pflanzenschutzdiensten der Länder auf ein integratives Warn- und Entscheidungsmodell, das Temperaturdaten, Monitoring und Feldkontrollen kombiniert. Auf dieser Grundlage wurden Anbauregionen bundesweit in drei Kategorien eingeteilt:
- Hot-Spot-Regionen mit hohem Erregerbefall und deutlichen Ertragseinbußen. Hier sind Insektizide (nach Warndienstaufruf) und pflanzenbauliche Maßnahmen wie frühe Ernte, Verzicht auf Wirtsfrüchte in Folgejahren oder der Anbau resistenter Sorten notwendig.
- Übergangsregionen mit mittlerem Befallsdruck, in denen priorisiert pflanzenbaulich vorgegangen wird und Insektizide nur im Einzelfall zum Einsatz kommen.
- Grenzregionen mit bislang geringem Auftreten, in denen vorbeugende Fruchtfolgegestaltung im Vordergrund steht.
Eine vollständige Tilgung der Zikade und der Erreger ist nicht möglich.
„Ziel ist es daher, die wirtschaftlichen Schäden durch gezielte, regional angepasste Maßnahmen deutlich zu reduzieren und eine weitere Ausbreitung einzudämmen“, schätzt Dr. Sabine Andert ein, Leiterin des Instituts für Pflanzenschutz in Ackerbau und Grünland.
Forschung und Vernetzung für langfristige Lösungen
Die Bekämpfung der Schilf-Glasflügelzikade erfordert einen langfristig angelegten, kulturübergreifenden Ansatz. Das wurde auch beim Fachgespräch des Julius Kühn-Instituts (JKI) im März 2025 deutlich, an dem über 300 Fachleute aus Bundes- und Landesbehörden, Forschung, Beratung und Praxis teilnahmen. Die Botschaft: Einzelmaßnahmen reichen nicht aus – es braucht abgestimmte Strategien über gesamte Fruchtfolgen in Raum und Zeit hinweg.
Die Forschungsarbeiten des JKI konzentrieren sich u. a. auf die Biologie und Ökologie der Schilf-Glasflügelzikade sowie der mit ihr assoziierten Pathogene. Auch wird in Zusammenarbeit mit Zuckerrüben- und Kartoffelzüchtern nach toleranten Sorten geforscht. „Im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte versuchen wir, sowohl Zuckerrüben- als auch Kartoffelsorten mit geringerer Anfälligkeit für die Schilf-Glasflügelzikade bzw. den von ihr übertragenen Pathogenen zu identifizieren“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Gross, der Leiter des Institutes für Pflanzenschutz in Obst- und Weinbau. Im Rahmen eines umfassenden Monitorings werden an zahlreichen Standorten systematisch die Flugaktivität, das Ausschlupfverhalten, Migrationsmuster sowie das Vorkommen dieser Zikade und weiterer potenzieller Vektorarten in natürlichen Habitaten erfasst und analysiert, unter anderem mithilfe von Klebetafeln.
„Diese passive Erfassungsmethode ermöglicht ein standardisiertes und standortübergreifend vergleichbares Monitoring“, erklärt Dr. Christoph Joachim. Ergänzend dazu kommen aktive Fangmethoden wie der Einsatz von Fangnetzen zum Einsatz.
mehr zur Vorgehensweise
Zur Bewertung der Wirkung von Pflanzenschutzmaßnahmen dienen sogenannte Ausschlupfkäfige, mit denen die Anzahl adulter Zikaden im Folgejahr innerhalb einer definierten Fläche erfasst wird. „So lassen sich Rückschlüsse auf ackerbauliche Praktiken oder den Einsatz insektizider Wirkstoffe im Vorjahr ziehen“ erklärt Dr. Andert. Fernerkundungsdaten und Habitatanalysen helfen schließlich dabei, die gewonnenen Aktivitätsdaten in einen übergeordneten ökologischen Kontext einzuordnen, um ein tieferes Verständnis der Lebensweise der Schilf-Glasflügelzikade zu entwickeln und potenzielle Migrationsmuster abzuleiten.
Das JKI forscht auch an biologischen Bekämpfungsansätzen wie Fangpflanzen, die attraktiv und gleichzeitig tödlich für die Zikade sind. „Die Forschungen in Labor und Gewächshaus sind weit vorangeschritten. Eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu diesem Thema wird gerade von Mitarbeiterinnen unserer beiden Fachinstitute gemeinsam vorbereitet, erklären Prof. Gross und Dr. Andrea Krähmer (Leiterin des Instituts für ökologische Chemie, Pflanzenanalytik und Vorratsschutz). „Wir konnten gerade in einer Veröffentlichung zeigen, dass Fettsäure-Amide („Solamine“) aus Wildkartoffeln gegen verschiedene Käfer und Pathogene wirken. Die auch für die Zikade tödlich wirkenden Substanzen könnten über die Züchtung von Kulturkartoffeln, die zur Biosynthese dieser Abwehrstoffe fähig sind, als Resistenz in neue Sorten integriert werden“, so Dr. Karin Gorzolka, Expertin für die Metabolomfoschung an Kartoffeln beim Institut ÖPV. Die Wirtseignung verschiedener acker- und gemüsebaulicher Kulturen wird ebenso am JKI untersucht wie neue Konzepte zur Paarungsstörung (Mating Disruption) mittels Vibrationen. Gleichzeitig wird an verbesserten Monitoring- und Diagnosesystemen gearbeitet. „In Labor-, Gewächshaus- und Freilandversuchen testen wir die Wirkung biologischer und biochemischer Wirkstoffe, beispielsweise von Lock- und Repellentstoffen zur umweltfreundlichen biotechnischen Bekämpfung der Zikade“ ergänzt Prof. Gross.
„Eine weitere vielversprechende Möglichkeit ist, die Pflanzen z.B. mithilfe induzierter Resistenz zu stärken“, erklärt Prof. Dr. Adam Schikora vom JKI- Institut für Epidemiologie und Pathogendiagnostik. „Diese kann durch bakterielle Quorum-Sensing-Moleküle, aber auch durch andere Stoffe erzielt werden.“ So könnten auch ansonsten anfällige Sorten für den Anbau erhalten werden bzw. bis zur Verfügbarkeit resistenter zugelassener Sorten der Anbau gestärkt werden.
Einen anderen Weg geht das Institut für Pflanzenschutz in Ackerbau und Grünland erläutert Dr. Andert. „Um Landwirtinnen und Landwirten bereits für die aktuelle Anbausaison Instrumente zur Kontrolle der Schilf-Glasflügelzikade zur Verfügung zu stellen, wird die generelle Wirksamkeit von Insektiziden gegen die Zikade untersucht. Dazu werden unter kontrollierten Bedingungen im Labor und Gewächshaus bio-basierte und chemische Insektizide gegen adulte Zikaden und Nymphen getestet. Darüber hinaus wird der Einsatz alternativer Pflanzenschutzmittel, wie Produkte auf Basis entomopathogener Pilze, auf deren Wirkungen gegen unterschiedliche Entwicklungsstufen der Zikade am Institut von Prof Gross untersucht: „Wir haben im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Birnblattsauger einen neuen insektenpathogenen Pilz entdeckt und wissenschaftlich beschrieben. Erste Untersuchungen zeigen, dass er mit großer Effektivität die Zikade tötet. Nun arbeiten wir an geeigneten Verfahren, um diesen Pilz für den Biologischen Pflanzenschutz nutzbar zu machen“, erläutert Prof. Gross.
In ausgewählten Modellregionen entwickelt das JKI in Zusammenarbeit mit den Pflanzenschutzdiensten der Länder, landwirtschaftlichen Betrieben und Verbänden praxisnahe und wirtschaftlich tragfähige Maßnahmen, die wissenschaftlich begleitet werden. Unterschieden wird dabei zwischen der Modellregion „Sachsen-Anhalt“ und der „Modellregion Süddeutschland“, die sich in vier kleinere Teilregionen gliedert. Die wissenschaftliche Betreuung der deutlich größeren Modellregion „Sachsen-Anhalt“ östlich von Magdeburg liegt beim JKI-Institut für Pflanzenschutz in Ackerbau und Grünland. Dort werden die Aktivitäten im Jahr 2025 in eine zweite Projektphase überführt und weiterhin intensiv begleitet.
Ziel der Untersuchungen in der Modellregion „Sachsen-Anhalt“ ist es, fundierte Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie sich die Schilf-Glasflügelzikade in Abhängigkeit von zuvor angebauten Kulturen ausbreitet und wie unterschiedliche Fruchtfolgen ihre Überwinterung und das Schlüpfen im Folgejahr beeinflussen.
„Auf dieser Basis sollen praxisnahe Maßnahmen entwickelt werden, die nicht nur in den Modellregionen, sondern auch darüber hinaus helfen können, das Risiko starker Zikadenvermehrungen wirksam zu verringern,“ erklärt Dr. Andert.